Warum, glauben Sie, zieht uns die Idee der Einfachheit in einer Welt an, die so stark auf Wachstum und Überfluss fokussiert ist?
Jörg Bernardy: Unsere Welt wird immer komplexer und daran ist auch nichts verkehrt. Das ist Teil unserer Evolution und es geht auch nicht darum, sich gegen Wachstum zu stellen. Der Fokus sollte allerdings nicht auf Wachstum im Außen liegen, sondern auf innerem Wachstum. Gefühlter Überfluss ist etwas Großartiges und das Erleben innerer Fülle unverzichtbar, wenn unser Leben leicht, glücklich und erfüllt sein soll. Die Leitfrage lautet daher: Wie schaffe ich es, aus der Fülle zu leben und weniger aus dem Gefühl von Mangel?
Ich übe mich regelmäßig darin, die Vorstellung loszulassen, dass etwas perfekt sein muss.
Welche praktischen Schritte sind aus Ihrer Sicht nötig, um Zufriedenheit mit dem zu entwickeln, was man bereits hat?
Kaum etwas erhöht unsere innere Zufriedenheit so einfach wie aufrichtig empfundene Dankbarkeit. Viel zu häufig haken wir das Thema Dankbarkeit mit dem Erstellen von Listen ab. Als würde das Aufzählen von Dingen schon ausreichen, um dankbar zu sein. In Wirklichkeit ist es viel einfacher. Dankbarkeit entfaltet sich vor allem dann, wenn wir sie empfinden. Einfachheit bedeutet, dass sich alles um das Empfinden dreht und gar nicht so sehr um das, wofür wir dankbar sind.
Wie bringen Sie die Idee der Einfachheit in Ihren Alltag ein?
Ich übe mich regelmäßig darin, die Vorstellung loszulassen, dass etwas perfekt sein muss. Weder ein Plan noch eine Liste sind in Stein gemeißelt. Es geht nicht darum, das perfekte Ergebnis zu erzielen, sondern es reicht, wenn es am Ende gut genug ist – und ich es trotz allem ein Stück weit genießen kann. Das wird in zehn Jahren zählen, nicht die Tatsache, dass etwas schiefgelaufen ist.

Was raten Sie Menschen, die sich von der Komplexität des Lebens überfordert fühlen, aber nicht wissen, wie sie die erste Stufe zu mehr Einfachheit erreichen können?
Klein anfangen und überlegen, was bereits alles gut läuft im Leben. Immer wieder Dankbarkeit empfinden für alles, was man bereits erleben durften, und dann diese Haltung auf die Zukunft ausrichten, also dem Leben einen Vertrauensvorschuss geben und Dankbarkeit empfinden für alles, was wir noch erleben dürfen. Wichtig ist, dass wir unsere innere Fülle täglich genießen, wenn auch nur für ein paar Momente. Nach und nach entwickeln wir ein Gefühl dafür, dass alles Wissen und alle Fähigkeiten bereits in uns sind, die wir für ein erfülltes Leben brauchen.
Welche der 22 Einsichten aus Ihrem Buch ist Ihnen persönlich am wichtigsten?
Die Einsicht, dass wir frei sind und dass wir jederzeit einen inneren Frieden in uns finden können. Nicht, weil alle Probleme gelöst sind, sondern weil Einfachheit bedeutet, Frieden zu schließen mit allem, was ist, auch mit dem, was (noch) ungelöst und unklar ist. Freiheit bedeutet immer auch, getroffene Entscheidungen zu revidieren und an die aktuellen Bedürfnisse anzupassen.
AUSZUG AUS DEM BUCH „ÜBER DIE KRAFT DER EINFACHHEIT IN TURBULENTEN ZEITEN“.
22 philosophische Einsichten von Jörg Bernardy.
Mit der Einfachheit ist es wie beim Essen: Der Appetit und die Lust auf mehr kommen meist beim Probieren
„Weniger ist mehr“, „All you need is less“ oder „Kein Mehr mehr“ – immer wieder höre und lese ich solche Sätze, wenn es um das einfache Leben geht. Ob Minimalismus, Suffizienz-Bewegung oder Frugalismus, meist geht es darum, den Konsum zu reduzieren und um die Frage, wie wir mit „Weniger ist mehr“ unser Leben verbessern können. In diesen Kontexten wird Einfachheit häufig mit Verzicht, Selbstbeschränkung und Mangel in Verbindung gebracht.
Die anhaltende Verherrlichung des „Weniger ist mehr“ offenbart eine Reihe von Missverständnissen und Vorurteilen, die es in Bezug auf das einfache Leben gibt. Schon der Philosoph Epikur warnte vor einem Zuviel des Weniger: „Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt.“
Die allerwichtigste und alles entscheidende Voraussetzung ist zunächst einmal, dass es freiwillig geschieht. Einfachheit fängt damit an, dass wir die Wahl haben. Wir entscheiden uns bewusst und aus freien Stücken für ein einfacheres Leben. Damit aber nicht genug: Alles beginnt damit, dass wir uns auf unsere innere Fülle konzentrieren. Denn Leichtigkeit und Fülle sind das Ziel, Einfachheit ist der Weg. Eine Haltung der Einfachheit einzunehmen bedeutet daher zunächst eine Verschiebung unserer Aufmerksamkeit:
Beim einfachen Leben geht es nicht um Verzicht, sondern um einen Fokus auf das Wesentliche, das heißt, um das Erleben von innerer und äußerer Fülle.
Statt „Weniger ist mehr“ sagen wir uns „Einfacher statt weniger“ und denken an Sätze wie „Einfach ist mehr“ und „Einfach ist genug“. Wesentlich ist hierbei, dass wir uns komplett frei machen von allen Vorstellungen, die wir von einem einfachen Leben haben. Wir vergessen also, dass wir wahrscheinlich unsere Wohnung aufräumen sollten, weniger konsumieren und eigentlich viel mehr im Einklang mit der Natur leben müssten. Statt vorgefertigte Konzepte und Vorschläge zu übernehmen, geht es hier also erst einmal darum, Einfachheit neu zu denken. Und zwar für uns und für das einfache Leben, das zu uns passt!
„Den Grad der Einfachheit muss jeder Mensch mit sich selbst ausmachen“, behauptet der Sozialphilosoph Richard Gregg, der 1936 zum ersten Mal von „freiwilliger Einfachheit“ spricht. Auch wenn die Idee der Einfachheit zeitlos und universell ist, muss sie doch zu unseren individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten passen. Mein Vorschlag ist, dass wir nicht damit anfangen unser Leben konsequent zu vereinfachen, wie es diverse Ratgeber empfehlen. Viel wichtiger scheint es mir, dass wir den Blick auf unser inneres Erleben richten, auf Freude, Genuss und Begeisterung. Und dass wir diese Gefühle mit unserem Wunsch und Ziel, einfacher zu leben, verbinden.