Lebenswertes und gesundes Wohnen in dichten städtischen Umgebungen wird künftig eine der zentralen Fragestellungen sein müssen. Derzeit leben ca. 8,2 Mrd. Menschen auf der Erde, davon ca. 57 Prozent in Städten, die ca. drei Prozent der Erdoberfläche einnehmen. Das exponentielle Bevölkerungswachstum lässt bis zum Jahr 2050 die Weltbevölkerung auf 9,7 Milliarden ansteigen. Davon werden laut Prognose ca. 80 Prozent in Städten leben. Auch in Österreich ist dieser globale Trend zu beobachten. Rund 60 Prozent aller Menschen leben bereits in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohner:innen. Die Angebotsvorteile in den Bereichen Arbeit, Bildung, Kultur, medizinische Versorgung und Unterhaltung sind Gründe für den starken Zuzug in die Städte. Zugleich bietet das Leben in den Städten nicht nur Vorteile. Hitzeinseln, Luftverschmutzung, fehlende Verkehrslösungen, Raumverteilungskonflikte, Integrationsdefizite, Anonymisierung und hohe Lebenskosten sind da als Problemstellung zu identifizieren. Mit dem permanenten Bevölkerungszuwachs geht auch der steigende Bedarf an Wohnraum einher. Der laute Ruf, nichts mehr zu bauen und nur noch die bestehenden Bauten umzubauen, ist daher nur bedingt die Lösung. In bestehenden Strukturen zu bauen, bedarf besonderer Sensibilität und stellt hohe Ansprüche an die Einfügung und die baukünstlerische Qualität.
Wie also wohnen wir in Zukunft in den dichten städtischen Umgebungen? Wie wohnen wir gesund und mit hoher Lebensqualität?
Andrea Redi: Der Druck in Richtung Nachhaltigkeit und CO2-Reduktion wird wegen der globalen Erwärmung und der zur Neige gehenden Ressourcen wie in allen Bereichen auch in der Architektur immer stärker. Nach der Agrarrevolution, der industriellen Revolution und der digitalen Revolution erleben wir jetzt die überaus notwendige „biologische Revolution“ und eine Energiewende. Das macht Strategien auf mehreren Ebenen erforderlich.
Die Aktivierung von Gebäudeoberflächen
Solare Energie zu nutzen und Luft zu reinigen sowie Photosynthese zu betreiben, sind wesentliche Strategien für ein lebenswertes Wohnumfeld. Dabei ist wichtig, dass dies architektonisch gut integriert wird, vor allem, wenn es bestehende Strukturen sind, die aufgerüstet werden. Qualitäten wie vertikale Grünwände und Raum für Urban Gardening können im Bebauungsplan bereits festgelegt werden. Photosynthese, Kühlung und Reinigung der Luft verbessern das Mikroklima und damit die unmittelbare Wohnqualität in dichten städtischen Strukturen.
Biophiles Design und Materialkreisläufe
Das gesunde Wohnumfeld innerhalb der Wohnung kann nur durch den Einsatz biologischer Baustoffe und durch biophile Bauweise erreicht werden. Große, den Wohnungen zugeordnete Balkone und Terrassen sowie allgemeine Freibereiche, die Urban Gardening ermöglichen, sind nachweislich ein wichtiger Faktor für die Wohnzufriedenheit. Vollständig recycelbare und wiederverwendbare Materialien minimieren den ökologischen Fußabdruck des Gebäudes während des gesamten Lebenszyklus.
Urban Mining
Die noch am wenigsten genutzten Ressourcen sind die Rohstofflager der Stadt selbst. Urban Mining bedeutet, die Stadt als Bergwerk der Zukunft zu begreifen, die verbauten Rohstoffe nach Ende der Lebensdauer von Gebäuden wiederzuverwerten und damit die anthropogenen Stofflager verstärkt zu nutzen, statt die geogenen weiter zu plündern.
Rekonfigurierbare, anpassbare Räume
Flexible Wohnungsgrundrisse sorgen für Adaptierungsmöglichkeiten an die sich ständig ändernden Anforderungen der Wohnenden. Ein Beispiel aus dem vorigen Jahrhundert ist die „Palastbauordnung“ – ein Grundrisstyp, der hauptsächlich in der Gründerzeit seine Anwendung fand, aber immer noch gut funktioniert. Das Prinzip ist einfach: Jeder Raum ist durch mehrere Türen mit einem großen, zentral angelegten Flur sowie mit seinen jeweiligen benachbarten Räumen verbunden. Dadurch entstehen zumindest zwei bis drei Möglichkeiten, die Räume zu nutzen und zusammenzuschalten. Mit der. zusätzlichen Qualität der gründerzeitlichen Bauten, der hohen Raumhöhe, die Teilbarkeit auch in der dritten Dimension ermöglicht, bieten Wohnungen aus der Gründerzeit eine hohe Flexibilität auch für jetzige Nutzungen. Sowohl Wohnen als Familie als auch die Integration von Arbeitsräumen, was seit der Coronapandemie mehr und mehr praktiziert wird, ist gut möglich.
