Den Schulabschluss in der Tasche, doch was nun? Für rund die Hälfte der österreichischen Absolvent:innen stellt sich diese Frage erst gar nicht, denn es ist klar: Die nächsten Monate stehen in der Pflicht des Wehr- oder Zivildienstes. Doch ist dieses System noch zeitgemäß und wäre ein verpflichtendes Sozialjahr für alle nicht die bessere Lösung? Soziologe und Universitätsprofessor Max Haller beleuchtet beide Seiten, die Pros und Contras, dieser Zukunftsvision.
Wäre Ihrer Ansicht nach ein soziales Jahr für alle als Alternative zum klassischen Wehr- und Zivildienst ein Zukunftsmodell, das Potenzial hat?
Grundsätzlich ohne Zweifel. Es könnten junge Menschen Einblick in Arbeits- und Berufswelten gewinnen, an die sie sonst vielleicht gar nicht denken oder die von vornherein aufgrund geringen Prestiges oder vermeintlich hoher Belastung gar nicht in Betracht gezogen werden. Dass auch Frauen herangezogen werden sollten, steht außer Frage. Viele frühere Benachteiligungen sind weggefallen und die meisten Frauen und Frauenvertretungen wollen auch keine besonderen Privilegien gegenüber Männern mehr haben.

Finden Sie es fair, dass Männer in Österreich zu einem Dienst verpflichtet sind und Frauen nicht? Würde es nicht allen jungen Erwachsenen guttun, mal so richtig anzupacken?
Wie schon festgestellt kann man es nicht als fair betrachten, nur Männer zu einem verpflichtenden Wehr- oder anderen Dienst heranzuziehen. Es geht beim verpflichtenden Dienst nicht nur um „richtig anpacken“, sondern eher darum, den jungen Menschen Berufsfelder und Lebensfelder zu zeigen. Dadurch können alle gewinnen.
Soll das Sozialjahr verpflichtend oder freiwillig sein?
Es müsste wohl verpflichtend sein, weil sonst ja viele sicher nicht teilnehmen würden. Allerdings gibt es dabei einen starken grund- und menschenrechtlichen Einwand: Es darf niemand zu einer Arbeit gezwungen werden. Beim Wehr- und Zivildienst wurde dies umgangen, da er nicht als Arbeit, sondern als „militärische Dienstpflicht“ definiert ist. Eine solche Ausnahmeregelung müsste dann auch beim sozialen Jahr greifen.
Ein verpflichtender sozialer Dienst würde vielen Jugendlichen eine ihnen wenig oder gar nicht bekannte Berufswelt eröffnen.“
Was sind Ihrer Meinung nach die Vor- teile eines sozialen Dienstes (egal ob Zivildienst, Wehrdienst, FSJ etc.)?
Wir wissen, dass die soziale Herkunft in hohem Maße die Berufs- und Lebenschancen bestimmt, sowohl positiv wie negativ. Kinder aus höheren Schichten haben viel bessere Bildungs- und Berufschancen, weil dies die Eltern erwarten und sie dabei unterstützen. Auch die gewählten Berufe von Kindern sind oft denen der Eltern ähnlich, wenn nicht sogar gleich. Kinder aus unteren Schichten ziehen daher qualifiziertere Jobs und die dafür notwendigen Bildungswege erst gar nicht in Betracht, bei jenen aus höheren Schichten ist es umgekehrt. Ein verpflichtender sozialer Dienst würde vielen Kindern eine ihnen wenig oder gar nicht bekannte Berufswelt eröffnen und damit auch ihre Ideen bezüglich der eigenen Zukunft verändern. Nicht nur Kinder aus unteren Schichten würden vielleicht qualifiziertere Wege in Betracht ziehen; auch jene aus wohlhabenden Familien fänden zunehmend Gefallen an nicht-akademischen Berufen. Es ist ja keine Seltenheit, dass Eltern ihren Kindern eine bestimmte Richtung vorgeben möchten und sie oft gegen deren Willen zu Studium oder anderen Karrierewegen drängen.
Glauben Sie, dass ein soziales Jahr das Interesse an sozialen Berufen steigert und so dem Personalmangel in dieser Branche entgegengewirkt werden kann?
Ja, ich denke auf jeden Fall, dass es einen kleinen positiven Effekt haben würde. Bezüglich der Reduzierung des Personalmangels besteht allerdings das Problem, dass die zu Sozialdienst Verpflichteten weniger bezahlt bekommen, daher eine Art „unlautere Konkurrenz“ für die Vollbeschäftigten darstellen könnten. Auch wäre umstritten (und daher gut zu überlegen), welche Organisationen oder Verbände „Zugriff“ auf Sozialdienst Leistende bekommen würden. Diese und weitere Aspekte müssen also vor der potenziellen Einführung eines sozialen Jahres definitiv noch genauer beleuchtet werden.